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Andriessen: Miroir de Peine

Andriessen: Miroir de Peine, Orchestral Music & Concertos

Die Wiederveröffentlichung von Aufnahmen aus den 1990er-Jahren schließt eine empfindliche Lücke in der Andriessen-Diskografie.

1991 und 1997/98 entstanden die hier wiederveröffentlichten, lange vergriffenen Einspielungen von Musik Hendrik Andriessens (1892–1981) mit dem 2005 aufgelösten Radio Kamerorkest der Niederlande. Ernest Bour, Ton Koopman, Peter Eötvös und zuletzt Frans Brüggen haben das Orchester geprägt, so dass eine große stilistische Flexibilität möglich war. Andriessens Musik wird außerhalb der Niederlande fast gar nicht gespielt geschweige denn eingespielt, und David Porcelijns cpo-Reihe mit dem Nederlands Symfonieorkest ist eine Fortsetzung der ursprünglich bei NM Classics erschienenen CDs (nur im Falle der Kuhnau-Variationen kommt es zur Duplizierung).

Schmerzliche Zerbrechlichkeit

Porcelijn profiliert sich schon hier als Andriessen-Dirigent, nicht nur mit den Kuhnau- und Couperin-Variationen und den Chromatischen Variationen, sondern auch mit Orchesterliedern, bei denen Roberta Alexander die Solistin ist. Der fünfsätzige Liederzyklus 'Miroir de Peine' auf Gedichte von Henri Ghéon über das Leiden Christi aus der Perspektive Marias entstand 1923 (1933 orchestriert) und vereint symbolistische, impressionistische und Aspekte der gregorianischen Kirchenmusik, und Alexander bieten ihn mit schmerzlicher Zerbrechlichkeit (leider fehlen die Liedtexte im zweisprachigen Booklet). Auch die Lieder 'Magna rex est amor' (1919) und 'Fiat Domine' (1920/30) auf Texte Thomas a Kempis‘ sind geistliche, hier zugleich aber auch sensuelle Kompositionen (ursprünglich mit Orgelbegleitung) mit Nähe zu französischen und belgischen Traditionen.

Die neoklassischen Kuhnau-Variationen (1935) bietet Porcelijn mit stärkerer Intensität als in der cpo-Neueinspielung, während er bei den 1944 entstandenen Couperin-Variationen, in einer Zeit, da Andriessen von den Nazis seiner Ämter enthoben war, den dekorativeren denn den expressiven Aspekt der Musik hervorhebt. Da überzeugen die Chromatischen Variationen (1970) nicht zuletzt durch expressiveren Streicherzugriff mehr.

Die zweite CD unter dem Dirigat Thierry Fischers versammelt vier Konzertkompositionen Andriessens aus späterer Zeit. Hier ist der expressive Gestus der Musik noch stärker herausgearbeitet als in den Einspielungen unter Porcelijn, gleich ob im zweisätzigen Concertino für Cello und Orchester (1970, Solist Michael Müller) oder dem dreisätzigen Violinkonzert (1968/69, Solistin Tinta S. von Altenstadt). Da gibt es keine Äußerlichkeiten, Virtuosität oder Kontrapunktik sind nie Selbstzweck, alles ist auf die musikalische Aussage hin bezogen. Fischer erweist sich als Andriessen-Dirigent höchster Grade, der die feinen Farbschattierungen der Musik, das Changieren der emotionalen Komponente mit Gusto und doch leichter Hand auszuarbeiten weiß. Im langsamen Satz des Concertino für Oboe und Streichorchester (1969/70, Solist Henk Swinnen) kommt der nachdenklich-melancholische Aspekt in Andriessens Schaffen ungefiltert zum Ausdruck, während der Mittelsatz des Violinkonzerts stärker auch mit Klangfarben spielt. Vielleicht am leichtesten zugänglich ist die düstere Canzina für Cello und Orchester (1965), unter Verwendung strengerer kontrapunktischer Techniken und gleichzeitig mit mitunter unerwarteten harmonischen Zuspitzungen.

Die Einspielungen haben den Test der Zeit gut bestanden, aufnahmetechnisch gibt es nichts zu kritteln, Balance und Tiefendimension sind tadellos. Ein weiterer Beweis, dass es nicht immer Neuaufnahmen braucht, um Repertoirelücken zu schließen.

Jürgen Schaarwächter, 28.09.2021